Im März 1931 erschien in der neu gegründeten Zeitschrift „Der Staat seid ihr. Zeitschrift für deutsche Politik“ ein längerer Artikel von Thomas Mann. Darin stellte der Literaturnobelpreisträger Begriffen wie völkisch, bündisch, heldisch und rassisch, die in jener Zeit bei vielen seiner Zeitgenossen großen Anklang fanden, die Ideen der Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit entgegen, die er seinen Lesern mit großer Eindringlichkeit als unhintergehbare Errungenschaften der bürgerlichen Epoche in Erinnerung rief.
Hellsichtig warnte er vor dem Erstarken der Pöbelherrschaft des Nationalsozialismus und dem Heraufziehen eines neuen Krieges, der an geistiger Verworfenheit den vorigen bei weitem übertreffen werde. Um beide noch auf den letzten Metern zu verhindern, warb er für eine Wiederbesinnung auf die genannten Ideen der Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Und er forderte von seinen Zeitgenossen nichts weniger als „Die Wiedergeburt der Anständigkeit“. So lautete denn auch der Titel dieses bemerkenswerten Artikels von Thomas Mann. Die erhoffte Wiedergeburt erfolgte bekanntlich nicht so bald. Und die Nationalsozialisten revanchierten sich fünf Jahre später beim Autor für diesen und viele andere (brillante) Texte, indem sie ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannten.
Jede Zeit für sich ist einzigartig und hat ihre je eigenen Herausforderungen. Deshalb sollte man mit hemdsärmeligen Parallelsetzungen stets vorsichtig sein. Eine solche begegnet uns aktuell immer wieder in der Warnung, es herrschten wieder Zustände wie zum Ende der Weimarer Republik, in die hinein Thomas Mann seinen genannten Text schrieb. Dagegen sei deutlich festgehalten, dass sich unsere zweite Demokratie heute fundamental von der ersten unterscheidet.
Sie ist stabil. Sie ist von der Mehrheit des Volkes gewünscht und gewollt. Sie ist in ihren Strukturen äußerst resilient und krisensicher. Sie hat aber, wie die erste Demokratie, keine Ewigkeitsgarantie. Und wir erleben in unseren Tagen, wie rasch sich Fundamente vermeintlich stabiler Demokratien – in Europa ebenso wie jenseits des Atlantiks – aushöhlen lassen und brüchig werden. Deshalb gilt es, bei allen historischen Unterschieden bezüglich Stabilität und Herausforderungen, immer dann besonders genau hinzuschauen, wenn man meint, das ein oder andere Déjà-vu zu erleben.
So etwa bei der Wiederkehr der Sympathie für Begriffe wie völkisch oder rassisch. Zumal, wenn ihnen Deckmäntelchen umgehängt werden, sodass man erst zweimal hinblicken muss, um sie zu entdecken. Bei dem Verschwörungsmythos der ethnischen Zersetzung europäischer Gesellschaften im Zuge des Großen Austauschs ist dies etwa der Fall. Oder bei den gar nicht so geheim vorgetragenen Plänen zur Ausweisung und Ausbürgerung von Menschen, die ethnisch-abstammungsmäßig nicht zum deutschen Volk gehören sollen – von den Anhängern dieses Vorhabens diabolisch Remigration genannt. Ab wieviel Prozent reinrassigen Blutes entginge man wohl solch einer explizit intendierten Aberkennung deutscher Staatsbürgerschaft und wie genau lauteten doch gleich die Kriterien für solch einen de facto Ariernachweis?
So manches Déjà-vu erlebt man auch im Blick auf das, was von Thomas Mann als das Erstarken der Pöbelherrschaft des Nationalsozialismus diagnostiziert wird. Nun sind wir weit von den Zuständen einer solchen im Wortsinn machtvollen rechtsextremistischen Herrschaft entfernt. Aber der Umstand, dass die größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag vom Bundesamt für Verfassungsschutz nach jahrelanger Prüfung inzwischen als gesichert rechtsextrem eingestuft und ihr in toto eine die Menschenwürde missachtende Grundprägung bescheinigt wird, mahnt zu höchster Wachsamkeit.
Und es ist in der Tag so, dass sich die parlamentarischen Vertreter dieser Partei einer ausgeprägten Pöbelherrschaft befleißigen. Dies lässt sich unter anderem an der Anzahl von Ordnungsrufen und Rügen ablesen, die sie nicht erst in der laufenden Legislaturperiode mit beispiellosem Abstand auf sich vereinen. Man meint, eine Neuauflage dessen zu erleben, was der lutherische Theologe Dietrich Bonhoeffer, von dem in dieser Ausgabe vielfach die Rede ist, zum Jahreswechsel 1942/43 mit den Worten beschrieben hat: „Die Frechheit, die ihr Wesen in der Missachtung aller menschlichen Distanzen hat, ist ebenso sehr das Charakteristikum des Pöbels, wie die innere Unsicherheit, das Feilschen und Buhlen um die Gunst des Frechen … Wir stehen mitten in dem Prozess der Verpöbelung in allen Gesellschaftsschichten …“
Man sollte diese Flut verbaler Entgleisungen, die wir gegenwärtig wieder erleben, nicht als Petitesse abtun. Hier werden – nicht nur, aber eben vorneweg doch besonders von einer Partei – ganz bewusst die Grenzen des Sagbaren hin zum Unsäglichen verschoben. Tabus werden so lange gebrochen, bis sie sich in der Normalität der Konversationen unserer Wohn- und Kinderzimmer, unserer Arbeits- und Freizeitplätze wiederfinden.
Und dass die Wege von der zur Gewohnheit werdenden Hass-Rede zur gewaltsamen Tat auf diese Weise immer kürzer werden, lässt sich mit traurigen Zahlen, Daten, Fakten belegen: Die Anzahl rechtsextremer Strafen und Gewalttaten ist bundesweit im vergangenen Jahr um 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf 43.000 registrierte Fälle angestiegen. In Bayern haben sich antisemitische Übergriffe im gleichen Zeitraum verdoppelt. Das Dunkelfeld dürfte hier wie bei antiziganistischen, queer-feindlichen oder den vielen anderen Übergriffen aufgrund gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit noch deutlich höher liegen. Es wird in Wort und Tat wieder dunkler in unserem Land. Und das in dem Maße, in dem die Ideen von Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit in den Hintergrund gedrängt werden.
Ist es nicht – bei allen Unterschieden unserer Epochen – erneut Zeit, wie einst Thomas Mann eine „Wiedergeburt der Anständigkeit“ einzufordern? Von uns selbst. Von unseren Nächsten. Und den etwas Ferneren. Um Schlimmeres zu verhindern. Um die Reihen der Zuständigen und der Anständigen wieder zu schließen. Um unsere Demokratie vor denjenigen zu schützen, die sich für einen antidemokratischen, menschenverachtenden, völkischen, rassischen Weg entschieden haben. Um die zurückzuholen, die sich zurückholen lassen, auch wenn es mühsam ist. Um die kleinteiligen Grabenkämpfe der politisch vielfarbigen Demokraten im Angesicht einer heraufziehenden braunen Wetterfront auf ein gesundes Maß zu beschränken. Um der Resilienz unserer offenen Gesellschaft willen. Um unserer selbst willen. Aber auch um derjenigen willen, die nach uns kommen. Wie Dietrich Bonhoeffer es so treffend formuliert hat: „Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll. Nur aus dieser geschichtlich verantwortlichen Fragen können fruchtbare … Lösungen entstehen.“
Die „Wiedergeburt der Anständigkeit“ kann ihre Kraft für die Lösung, die Bewältigung der Herausforderungen unserer Tage aus unterschiedlichen Quellen schöpfen. Thomas Mann sah in seiner Zeit den Humanismus durch den erstarkenden Nationalsozialismus fundamental bedroht und wurde so (nach etwas längerem Anlauf) zum wortmächtigen Anwalt von Demokratie und Menschlichkeit. Dietrich Bonhoeffer fand seine Kraft, sich gegen die menschenverachtende Pöbelherrschaft des Nationalsozialismus und ihre von ihm bereits seit 1933 öffentlich bekämpfte Judenverfolgung zu stemmen, in seinem christlichen Glauben. Dieser Glaube trug ihn im Kirchenkampf gegen die irregeleiteten Deutschen Christen. Dieser Glaube trug ihn in der Zeit, als ihm ab 1940 das öffentliche Sprechen, ein Jahr darauf das Publizieren verboten wurde. Und dieser Glaube trug ihn nach seiner Verhaftung 1943 auf seinem Weg von Buchenwald über Schönberg bis zum Galgen in Flossenbürg.
Das Bayerische Bündnis für Toleranz setzt sich mit seinen über 100 Mitgliedsorganisationen aus Zivilgesellschaft, Staat und Religionsgemeinschaften heute ebenfalls aus ganz unterschiedlichen Beweggründen für den Schutz unserer Demokratie und die Wahrung der Menschenwürde ein. Diese Vielfalt in der Motivation bei gleichzeitiger Einigkeit im Ziel macht seine bayernweit einzigartige Stärke aus. Einheit in Vielfalt – hätte sich die Europäische diesen Slogan nicht untrennbar zu eigen gemacht, er würde perfekt auf das Bayerische Bündnis für Toleranz passen.
Persönlich schöpfe ich meine Kraft zum Widerstand gegen das Erstarken der menschenverachtenden Ideologien des Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus wie Dietrich Bonhoeffer aus meinem christlichen Glauben. Vielleicht lassen auch Sie sich zum noch tatkräftigeren Aufstand der Anständigkeit durch seine folgenden, nicht ganz unbekannten Zeilen bewegen, die er kurz vor seiner Inhaftierung unter dem Titel „Einige Glaubenssätze über das Walten Gottes in der Geschichte“ geschrieben hat und die zwischen Dachziegeln und Sparren versteckt, sowohl Hausdurchsuchungen als auch Bomben überstanden haben:
„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen … Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern, dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“
Im Angesicht der Herausforderungen unserer Zeit, der Verschiebung der Grenzen des Sagbaren hin zum Unsäglichen, der Zunahme der rechtsextremen Straf- und Gewalttaten, der menschenverachtenden Verpöbelung in allen Gesellschaftsschichten, wird es wieder Zeit für Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Es liegt an uns. Es wird Zeit für unsere aufrichtigen Gebete und für verantwortliche Taten. Es wird wieder Zeit für die Wiedergeburt der Anständigkeit!
Wir sind Bayerns größter Zusammenschluss aus staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie Religionsgemeinschaften, um unsere Demokratie und die Achtung der Menschenwürde zu stärken und Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus zu bekämpfen.