Philipp Hildmann: Müssen wir nach dem 7. Oktober 2023 von einem „neuen“ Antisemitismus sprechen?
Ludwig Spaenle: Neu mögen Ausmaß und Formen sein – inhaltlich werden bei den Protesten und Demonstrationen gegen Israel häufig älteste Stereotype verwendet, vor allem der Vorwurf des Kindermords und Verschwörungstheorien über die angeblich allmächtigen Juden.
Auch der Umstand, dass sich Antisemitismus hinter sogenannter „Israelkritik“ versteckt, ist nicht neu. Die israelische Regierung und Armee kann und darf man kritisieren, nirgends geschieht das intensiver als in Israel selbst. Die Proteste in Europa und Nordamerika zielen aber häufig auf die Delegitimierung und letztlich Vernichtung des Staates Israel ab – das ist weder neu noch zulässig.
Ist Antisemitismus ein Problem allein für Jüdinnen und Juden?
Selbstverständlich leiden in erster Linie jüdische Menschen unter Antisemitismus. Seine Bekämpfung ist aber in unser aller Interesse. Antisemitismus gefährdet wie alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit unser soziales Miteinander, indem eine Gruppe herabgewürdigt und ausgegrenzt wird. Beim Antisemitismus kommt hinzu, dass er das Bild einer vermeintlich übermächtigen Gruppierung zeichnet, die in Politik, Wirtschaft etc. heimlich die Fäden zieht. Diese Verschwörungstheorien sind besonders gefährlich und letztlich zerstörerisch für unsere Demokratie.
Welche Facette jüdischen Lebens hier und heute schätzen Sie besonders?
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist durch die vielen Kontingentflüchtlinge geprägt, die in den 1990er Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion zu uns kamen. Bei meinen Besuchen in jüdischen Gemeinden und Institutionen sehe ich immer wieder, dass Menschen unterschiedlichster Herkunft hier zusammenarbeiten. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine haben die jüdischen Gemeinden und ihre vielen russisch- und ukrainisch-sprachigen Mitglieder besonders aktiv in der Betreuung von ukrainischen Menschen geholfen – ein Umstand, der öffentlich kaum Aufmerksamkeit erregt hat. Die Vielfalt des kulturellen Lebens in der (kleinen) jüdischen Gemeinschaft beeindruckt mich ebenfalls immer aufs Neue.
Bild: Studio Liebhart, München
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