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Drei Fragen an …

26. September 2025

In Deutschland ist die Zahl gemeldeter Fälle verbaler und körperlicher Gewalt gegen Sinti und Roma im vergangenen Jahr erneut stark gestiegen. Wir haben die Vorsitzende des Regionalverbands Deutscher Sinti und Roma zu den aktuellen Entwicklungen befragt.

In Deutschland ist die Zahl gemeldeter Fälle verbaler und körperlicher Gewalt gegen Sinti und Roma im vergangenen Jahr erneut stark gestiegen. Auch in Bayern ist die Zahl der Übergriffe besorgniserregend hoch.

Als Bayerisches Bündnis für Toleranz stehen wir bei dieser spezifischen Form des Rassismus in engem Austausch mit Marcella Herzenberger, der Vorsitzenden des Regionalverbands Deutscher Sinti und Roma Schwaben, und haben sie zu den aktuellen Entwicklungen befragt.

Philipp Hildmann: Was genau versteht man unter Antiziganismus und können Sie beziffern, wie groß die potentiell betroffene Personengruppe in Deutschland und in Bayern in etwa ist?

Marcella Herzenberger: Antiziganismus bezeichnet die spezifische Form des Rassismus, die sich gegen Sinti und Roma richtet. Er äußert sich in tief verwurzelten Vorurteilen, Diskriminierung, Ausgrenzung bis hin zu struktureller Benachteiligung – in Bildung, Arbeit, Wohnen, aber auch im alltäglichen Leben. Als Vorsitzende des Regionalverbands Deutscher Sinti und Roma Schwaben und selbst Angehörige der Minderheit weiß ich aus eigener Erfahrung, dass Antiziganismus nach wie vor eine ernste Realität ist. Viele Angehörige unserer Gemeinschaft verbergen ihre Identität aus Angst vor Benachteiligung, Stigmatisierung oder sogar beruflichen Nachteilen – ein Umstand, der es erschwert, belastbare Zahlen zur betroffenen Personengruppe zu nennen.

Offiziell leben laut Schätzungen rund 70.000 bis 120.000 Sinti und Roma in Deutschland, wobei die Dunkelziffer vermutlich deutlich höher liegt – allein schon, weil viele ihre Herkunft nicht offenlegen. In Bayern wird die Zahl auf mehrere zehntausend geschätzt, doch auch hier ist die tatsächliche Zahl schwer greifbar. Es ist ein großes Problem, dass Angst vor Diskriminierung dazu führt, dass Menschen ihre Identität verleugnen müssen, um gleiche Chancen in Ausbildung, Beruf und Gesellschaft zu haben. Das zeigt, wie tief Antiziganismus in unserer Gesellschaft verankert ist – und wie notwendig entschiedene Aufklärung und Gegenmaßnahmen sind.

PH: Die Zahl antiziganistischer Übergriffe nimmt offensichtlich zu. Haben Sie hier konkrete Zahlen für uns und einen Erklärungsansatz, was die Ursache für diese Entwicklung sein könnte?

MH: Ja, die Zahl antiziganistischer Vorfälle nimmt in alarmierender Weise zu. Im Jahr 2024 wurden bundesweit 1.678 antiziganistische Vorfälle dokumentiert – ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Vorjahr, in dem es 1.233 solcher Vorfälle waren. Diese Statistik zeigt jedoch nur einen Ausschnitt der Realität. Die eigentliche Dimension bleibt weitgehend im Dunkeln, denn die Dunkelziffer ist erheblich. Viele Angehörige unserer Minderheit melden Übergriffe oder Diskriminierung gar nicht erst – aus Angst, Resignation oder mangelndem Vertrauen in die Institutionen.

Seit Juli 2024 bin ich innerhalb des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma Bayern für die Antidiskriminierungsberatung innerhalb des Projekts „respekt*land“ verantwortlich. In dieser Arbeit wird klar: Nur die community-basierte Beratung, die von uns als romanessprechende Angehörige der Minderheit nach den Standards des Antidiskriminierungsverbands Deutschlands durchgeführt wird, gelingt es, das Vertrauen der Ratsuchenden überhaupt erst aufzubauen. Viele fragen sich: „Wird das, was ich sage, für oder gegen mich verwendet?“ oder sagen sich direkt: „Mir wird ja sowieso nicht geholfen.“ Solche Sätze zeigen, wie tief das Misstrauen sitzt – und das nicht ohne Grund.

Wir erleben leider immer wieder, dass selbst mit unserer Begleitung Unterstützungsstrukturen versagen: Polizeiliche Anzeigen werden nicht aufgenommen, Verfahren eingestellt oder Vorfälle bagatellisiert. Die Ursache für die steigenden Zahlen antiziganistischer Übergriffe liegt nicht nur in einem gesellschaftlichen Klima, das Minderheiten zunehmend ablehnend begegnet, sondern auch in der mangelnden Sensibilisierung staatlicher Stellen – vom Bildungswesen bis zur Justiz. Der jahrhundertelang gewachsene Antiziganismus sitzt tief in den Strukturen – und es braucht ernst gemeinte, nachhaltige Maßnahmen, um dem entgegenzuwirken.

PH: Fühlen Sie sich als Gruppe der Sinti und Roma eigentlich ausreichend geschützt und gib es etwas, was Sie sich in diesem Zusammenhang von staatlicher/politischer Seite oder auch von der Zivilgesellschaft wünschen würden?

MH: Wir als Minderheit der Sinti und Roma haben in den letzten Jahrzehnten durch unermüdliche Arbeit und politischen Einsatz wichtige Fortschritte erzielt. Besonders hervorheben möchte ich die jahrzehntelange Arbeit unseres Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, der nie müde wurde, für unsere Rechte, unsere Gleichberechtigung und unsere Anerkennung zu kämpfen. Sein Einsatz hat unter anderem dazu geführt, dass wir heute ein zentrales Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas im Herzen Berlins haben – direkt auf dem Gelände der Bundesregierung. Ebenso wichtig ist die Wiedereinsetzung eines Antiziganismusbeauftragten, derzeit Staatssekretär Michael Brand, was ein deutliches politisches Signal ist.

Doch trotz dieser Erfolge kann von echtem Schutz keine Rede sein. Wir erleben eine gefährliche Entwicklung, in der sich ein neues Klima des Nationalismus und Rechtsextremismus ausbreitet. Angehörige unserer Minderheit haben heute wieder Angst – Angst, sich zu ihrer Herkunft zu bekennen, Angst vor Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt. Und diese Angst ist berechtigt. Wir brauchen nicht nur Beauftragte und Symbole, sondern entschlossene staatliche Maßnahmen gegen rechte Strukturen – sowie eine starke, solidarische Zivilgesellschaft, die nicht wegschaut.
Sinti und Roma leben seit 600 bis 700 Jahren in Deutschland. Wir sind keine „Pass-Deutschen“, wir sind jahrhundertelange Deutsche. Das ist unser Land – und auf dieses Land erheben wir Anspruch. Wer hier zu gehen hat, sind die Nazis, die gehen müssen!

PH: Liebe Frau Herzenberger, wir danken Ihnen für das Gespräch.


Wir sind Bayerns größter Zusammenschluss aus staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie Religionsgemeinschaften, um unsere Demokratie und die Achtung der Menschenwürde zu stärken und Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus zu bekämpfen.


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